Geographie und Öffentlichkeit
© Eberhard Schallhorn
Geographie in Öffentlichkeit,
Lehre, Praxis und Unterricht.
Als der kleine Prinz in Antoine de Saint-Exupérys gleichnamiger Erzählung während seiner Reise auf den sechsten Planeten kam, traf er einen einzigen Bewohner, einen alten Herrn, der ungeheure Bücher schrieb:
„Da schau! Ein Forscher!“ rief er, als er den kleinen Prinzen sah. Der kleine Prinz setzte sich an den Tisch und verschnaufte ein wenig. Er war schon so viel gereist! „Woher kommst Du?“ fragte ihn der alte Herr. „Was ist das für ein dickes Buch?“ sagte der kleine Prinz. „Was machen Sie da?“ „Ich bin Geograph“, sagte der alte Herr. „Was ist das, ein Geograph?“ „Das ist ein Gelehrter, der weiß, wo sich die Meere, die Ströme, die Städte, die Berge und die Wüsten befinden.“ „Das ist sehr interessant“, sagte der kleine Prinz. „Endlich ein richtiger Beruf!“
Die Meinung, dass „Geograph“ ein „richtiger Beruf“ sei, ist allerdings auf unserem schönen Planeten durchaus nicht weit verbreitet. Antwortet jemand, der nach seinem Beruf gefragt wurde, mit „Ich bin Geograph“, wird er regelmäßig die anerkennende, gleichwohl erstaunte Antwort hören: „Ach, Geologe sind Sie!“ Oder: „Ich bin in … geboren / im Urlaub gewesen. Ach, Sie wissen nicht, wo das ist? Aber Sie sind doch Geograph!?“
Immerhin dürfte auf diese Weise dann der Anknüpfungspunkt für ein Gespräch gefunden sein, das sich um die Dinge dreht, mit denen sich Geographen tatsächlich beschäftigen: Mit Meeren, Strömen, Städten, Bergen und Wüsten sicherlich, wie der alte Herr auf dem sechsten Planeten, aber auch und besonders mit den Zukunftsproblemen unserer Welt, wie sie von Umweltexperten und Wissenschaftlern auf Befragen des Umweltprogramms der Vereinten Nationen (UNEP) genannt wurden, zum Beispiel:
Klimawandel und Luftverschmutzung
Wasserknappheit und Wasserverschmutzung
Zerstörung der Wälder und Wüstenbildung
Mülldeponien, Industrieabgase und Verstädterung
Bodenerosion
Störung der Ökosysteme
Energieverbrauch und Erschöpfung der natürlichen Ressourcen
Meeresverschmutzung und Veränderung von Meeresströmungen
Naturkatastrophen
Das Besondere aller dieser Themen ist es, dass ihre Ursachen und Folgen sowohl die natürlichen Gegebenheiten der Erde als auch die belebte Natur betreffen, insbesondere aber auch den Menschen. So ist es einerseits unzweifelhaft, dass sich im Laufe der Erdgeschichte das Klima in den Regionen der noch menschenlosen Erde immer wieder, oft sogar grundlegend und vergleichsweise schnell geändert hat – dass es andererseits aber durch die wirtschaftliche Aktivität des Menschen in den vergangenen 100 Jahren dermaßen verändert wurde, dass eine Beeinträchtigung des nunmehr vorhandenen menschlichen Lebens in weiten Regionen der Welt zu befürchten ist – anstatt dass menschliches Wirken das Leben des Menschen auf der Erde erleichtert.
Beschäftigung im und mit dem Fach Geographie bedeutet also, sich im naturwissenschaftlichen wie im gesellschaftswissenschaftlichen Umfeld zu betätigen, Methoden aus beiden Bereichen sachgerecht anzuwenden und jeweils das System Mensch-Erde-Mensch als Ganzes zu berücksichtigen: Der Mensch wirkt auf die Erde ein, und die veränderte Erde wirkt auf das Leben des Menschen zurück.
Geographie ist als Fachdisziplin, die sich mit „der Erdoberfläche in ihrer räumlichen Differenzierung, ihrer physischen Beschaffenheit sowie als Raum und Ort des menschlichen Lebens und Handelns“ (Blotevogel) beschäftigt, eine Geowissenschaft. Zur sach- und fachgerechten Behandlung ihrer Inhalte zieht sie gleichermaßen Erkenntnisse und Inhalte der naturwissenschaftlichen Geowissenschaften (z. B. Geologie, Meteorologie, Geophysik, Mineralogie, Ozeanographie u.a.) wie der Kultur- und Wirtschaftswissenschaften heran. Oft wird sie daher als ein „Brückenfach“ zwischen Natur- und Kulturwissenschaften bezeichnet. Darüber hinaus vertritt sie in den deutschen Schulen weitgehend – neben dem in einigen Ländern in den Stundentafeln der Sekundarstufe II vorhandenen Schulfach „Geologie“ und einigen Inhalten in den Fächern Physik, Chemie und Biologie – die Geowissenschaften in der Schule; gerne wird das Schulfach daher auch als geo- daher auch als geo- oder „erdwissenschaftliches Zentrierungsfach“ genannt (vgl. RICHTER 1993) .
Diese unterschiedlichen Beinamen weisen allerdings auch auf ein gewisses Maß von Unsicherheit der Geographie darüber hin, was sie bei der nahezu unendlichen Vielfalt ihrer möglichen Objekte als eigentlichen Inhalt zu vertreten hat. Daher wäre es dem Selbstverständnis des Faches förderlich, wenn es sich nicht nur als Mittler zwischen Fächern, sondern als eigenständiges Fach im Fächerkanon der Schulen verstünde. Seine Inhalte sind eine Verklammerung von Natur- und Kulturwissenschaften und damit von seinem inneren Selbstverständnis her hochaktuell und modern: Alle Wissenschaften sind heute dazu aufgefordert, fachübergreifend und fächerverbindend zu arbeiten – ein Grundsatz, dem sich die Geographie eo ipso verbunden fühlt.
Das betrifft vor allem die Geographie an der Schule. Wenngleich sie durch die Kultusministerkonferenz dem „gesellschaftswissenschaftlichen Aufgabenfeld“ zugeordnet wurde, so zeigen doch Lehr- bzw. Bildungs- oder Rahmenrichtlinienpläne sowie Schulbücher deutlich von den unteren bis zu den oberen Klassenstufen, dass im Schulfach Geographie – wie es dem Fachverständnis entspricht – natur- und kulturwissenschaftliche Inhalte mit beide vernetzender Methode behandelt werden. Insofern ist das Fach in der Schule einerseits für Schüler[1]), deren naturwissenschaftlicher Unterricht oft erst in der Mittelstufe einsetzt, ein schwieriges und für den Lehrer in der Stundenvorbereitung ein arbeitsaufwendiges, das es zudem erforderlich macht, stets auf aktuellem Wissensstand zu sein. Das bedarf der aufmerksamen Lektüre neuer Literatur und der Sichtung der Medien.
Andererseits aber führt die Zuordnung zu den Gesellschaftswissenschaften und der Charakter des Schulfaches Geographie als „Nebenfach“ zumindestens in der Unter- und Mittelstufe dazu, dass bestimmte Fächerkombinationen sowohl bei der Wahl der Leistungs- bzw. Neigungskurse der Schüler in der Oberstufe des Gymnasiums als auch bei der Lehrerausbildung oft nicht möglich sind. Das betrifft vor allem die Kombination von Geographie und Naturwissenschaft. Die naturwissenschaftlichen Geowissenschaften haben dies erkannt und fordern die entsprechende Änderung der Abiturvorschriften und der Ausbildungsrichtlinien für Lehrer („Leipziger Erklärung“ der Alfred-Wegener-Stiftung u.a. (1996) und „Leipziger Memorandum“ (1999) der Konferenz der geowissenschaftlichen Fakultäten an den Hochschulen Deutschlands).
Zugleich wurde von Seiten der Politik in den 1980/90er Jahren deutlich das Schulfach Geschichte gestärkt. Geschichtliche Kenntnisse wurden stets genannt, wenn es darum ging, unverzichtbare Bildungsinhalte zu bezeichnen – geographische Inhalte wurden von Seiten der Politik deutlich geringer eingestuft, wenngleich darüber geklagt wurde, dass das Interesse der Jugendlichen für politisches Gestalten immer weiter abnehme. Gerade das kann durch die Behandlung z. B. von Inhalten zur Raumordnung und Städteplanung im Fach Geographie gestärkt und geübt werden. Inzwischen hat aber auch die Disziplin Geschichte bemerkt, dass die Behandlung historischer Inhalte ohne den Raum, in dem sie sich abspielten, nicht möglich ist. Unter dem Stichwort „Big History“ (DIAMOND 1997, SPIER 1998) werden nun Historiker dazu aufgerufen, auch die Bedingungen des Raumes, also die geographische Dimension, bei der Behandlung ihrer spezifischen Inhalte zu berücksichtigen. Die Fachverbände der Lehrer/innen für Geographie, Geschichte und Gemeinschaftskunde haben die inhaltliche Zusammengehörigkeit auch dieser drei Fächer in der „Würzburger Erklärung“ (1995) festgeschrieben.
Die Behandlung geowissenschaftlicher – und damit auch geographischer – Inhalte in den Schulen ist in der Öffentlichkeit unumstritten. Politiker werden nicht müde, die Bedeutung geographischer Inhalte für die Allgemeinbildung der Schüler/innen zu betonen, wie beispielsweise der Ministerpräsident des Landes Baden-Württemberg anlässlich des 23. Deutschen Schulgeographentages 1992 in Karlsruhe:
„Die Schulgeographen erfüllen mit ihrem Unterricht wichtige Aufgaben. Sie machen den jungen Menschen die Wirkung ihres Verhaltens im Heimatraum bewusst. Durch die Unterrichtung über andere Länder der Erde weiten sie gleichzeitig den Horizont der Jugendlichen und lassen sie erkennen, dass ihre Heimat vielfältig mit der Welt insgesamt verbunden ist. Sie veranschaulichen Einheit und Besonderheit, Eigenständigkeit und Abhängigkeit von der Welt. Die Geographie ist unverzichtbarer Bestandteil eines modernen und zukunftsorientierten Unterrichts.“ (Erwin Teufel, Mai 1992)
Untersuchungen zum Bild des Geographieunterrichts in der Öffentlichkeit (z. B. KÖCK 1997) machen deutlich, dass der Geographieunterricht in seinen Inhalten und Methoden durchweg positiv bewertet und angesehen wird. Klischeehafte negative Meinungen über den Geographieunterricht, die immer wieder zu hören sind, werden rundweg abgelehnt: „Erdkunde ist hauptsächlich Topographie“ von 80 % der Befragten, „Erdkunde ist anspruchslos“ von 95 %, „Erdkunde kann man doch“ von ebenfalls 95 % und der Satz „Erdkunde kann man durch Reisen/Medien lernen“ wird von 28 % abgelehnt und immerhin von 70 % mit „stimmt nur zum Teil“ beantwortet.
Gleichwohl wird das Fach Geographie (bzw. Erdkunde) von den Kultusbehörden der Länder geradezu stiefmütterlich behandelt. In keinem Land wird Geographieunterricht in allen Klassenstufen und allen Schularten zweistündig unterrichtet. Stattdessen finden sich wiederholt Einstündigkeit, die von Pädagogen polemisch, aber nach den Erfahrungen aus dem Schulalltag nicht unberechtigt als „Keinstündigkeit“ bezeichnet wird, und vor allem in zahlreichen Ländern die Unterrichtung geographischer Inhalte in gesellschaftswissenschaftlichen Integrationsfächern, in denen die Anteile der jeweiligen Fachinhalte in der Schulpraxis letztlich der Beliebigkeit unterliegen, geographische Bildung somit nicht gewährleistet ist.
Die Erkenntnis, dass es allerdings notwendig wäre, die wichtigen geographischen Inhalte in der Schule doch zu unterrichten, führte in den vergangenen Jahre verstärkt dazu, diese Inhalte in einen „fächerverbindenden Bereich“ zu schieben. In Form von Projektarbeit sollen die Schüler die entsprechenden Inhalte aufarbeiten.
In der Praxis führt das aber oft dazu, dass die Projekte in Zeiten durchgeführt werden, in denen dem Unterricht durch bestimmte Bedingungen die erforderliche Ernsthaftigkeit genommen wurde, wenn beispielsweise die Projekttage in den Tagen nach den Versetzungskonferenzen am Schuljahresende durchgeführt werden. Außerdem sind nicht alle Themen, die in einigen Ländern sogar im Lehrplan als verbindlich ausgewiesene „fächerverbindende Projekte“ durchzuführen sind, geowissenschaftlichen Inhalts, so dass nur ein Teil der Schüler sich im Projektunterricht mit den Inhalten beschäftigt, die wegen ihrer inhaltlichen Bedeutung und der Einübung methodischer Fähigkeiten eigentlich zum Fundamentum des modernen Schulunterrichts gehören müssten.
Insbesondere erweist sich auch die Zuordnung der Geographie in gesellschaftswissenschaftliche Integrationsfächer als problematisch, und zwar nicht nur deswegen, weil dadurch die Gefahr gegeben ist, dass der wichtige naturwissenschaftliche Anteil geographischer Inhalte zu wenig berücksichtigt wird. Es liegen Erfahrungen aus den USA vor. Dort ist man zugunsten des Fachunterrichts wieder abgekommen von sozialwissenschaftlichen Kombinationsfächern, weil im Zusammenhang dieser unscharf definierten Fächer insbesondere geographische Anteile sowohl zeitlich als auch inhaltlich vernachlässigt wurden. In den 1980er Jahren stellte man in den USA dementsprechend einen „erschreckenden geographischen Analphabetismus“ fest, der auf der Grundlage von „Goals 2000 – Educate America Act“ zu energischen, wenngleich dezentralen kultuspolitischen Maßnahmen führte. In den USA ist „Rediscovering Geography“ das bildungspolitische Schlagwort geworden, dem gerade nach dem 11. September 2001 und der erneut festgestellten Unkenntnis über andere Länder und Kulturen, aber auch angesichts der neuen Hinwendung zum eigenen Land ein neues Gewicht zukommt.
Das Schulfach Geographie oszilliert zwischen anerkannter Bedeutung für die Bildung der zukünftigen, mündigen Staatsbürger und der bewussten Vernachlässigung in der Praxis. Es kann angenommen werden, dass das geringe Interesse der Jugendlichen für das Geschehen im öffentlichen Raum und an der nachhaltigen Bewahrung der Lebensbedingungen auf der Erde – wie sie z. B. die Shell-Studie 2002 nachgewiesen hat – auch ihre Grundlage in der faktisch geringen Vermittlung geographischer Bildung hat. Um so mehr bedarf es der Anstrengungen der Fachlehrer für Geographie, aus ihrer pädagogischen Verantwortung für die ihnen in der Schule anvertrauten Kinder und Jugendlichen heraus auch abseits der für den Geographieunterricht zur Verfügung stehenden Unterrichtsstunden geographische Bildung zu vermitteln.
Literatur:
Alfred-Wegener-Stiftung für Geowissenschaften in Gemeinschaft mit der Deutschen Gesellschaft für Geographie e.V. und dem Institut für Länderkunde in Leipzig (1996): Leipziger Erklärung zur Bedeutung der Geowissenschaften in Lehrerbildung und Schule. (Köln, München.)
Deutsche Gesellschaft für Geographie (Hrsg.) (2003): Grundsätze und Empfehlungen für die Lehrplanarbeit im Schulfach Geographie. (Bonn.)
Deutsche Shell (Hrsg.) (2002): Jugend 2002. Zwischen pragmatischem Idealismus und robustem Materialismus. (Frankfurt am Main.)
Diamond, Jared (1997): Arm und Reich. Die Schicksale menschlicher Gesellschaften. 2. Auflage, Frankfurt am Main.
Ehlers, Eckart, und Hartmut Leser (Hrsg.) (2002): Geographie heute – für die Welt von morgen. Gotha und Stuttgart. = Perthes Geographie Kolleg.
Konferenz der geowissenschaftlichen Fachbereiche an den wissenschaftlichen Hochschulen der Bundesrepublik Deutschland in Gemeinschaft mit der Deutschen Gesellschaft für Geographie e.V. (1999): Leipziger Memorandum zur Situation der Geographie an den Schulen in Deutschland. Leipzig.
Harfes, Hans-Peter, und Roland Walter (Hrsg.) (1999): Die Erde im Visier. Die Geowissenschaften an der Schwelle zum 21. Jahrhundert. (Heidelberg.)
International Geographical Union – Commission on Geographical Education (1992): International Charter on Geographical Education. (o.O.)
Köck, Helmuth (1997): Zum Bild des Geographieunterrichts in der Öffentlichkeit. Gotha. = Perthes Pädagogische Reihe. Sonderband.
Rediscovering Geography Committee, Board on Earth Sciences and Resources, Commission on Geosciences, Environment, and Resources, National Research Council (1997): Rediscovering Geography. New Relevance for Science an Society. Washington.
Richter, Dieter (1993): Geographie als erdwissenschaftliches Zentrierungsfach. In: Geographie und Schule 15, Heft 84, S. 22-28.
Spier, Fred (1998): Big History. Was die Geschichte im Innersten zusammenhält. Darmstadt.
The National Council for Geographic Education (1994): Geography for Life. National Geography Standards. Jacksonville.
Verband Deutscher Schulgeographen e.V. (2003): Geowissenschaften und Globalisierung. Memorandum zur geographischen Bildung und Erziehung in Deutschland. (Bretten).
Verband Deutscher Schulgeographen e.V. , Verband der Geschichtslehrer Deutschlands e.V., Deutsche Vereinigung für Politische Bildung e.V. (1995): Würzburger Erklärung zur Weiterentwicklung der gymnasialen Oberstufe. http.//www.erdkunde.com/info/wburg.htm
Aus: Schallhorn, Eberhard (Hrsg.): Erdkunde-Didaktik. Praxishandbuch für die Sekundarstufe I und II. Berlin 2004, S. 9-13.
[1] Im Folgenden wird für weibliche und männliche Formen einheitlich die männliche Form gewählt. Das ist neutral gemeint und dient allein der Möglichkeit zu einfacheren Formulierungen.
- Ziele des Geographieunterrichts
- Geographieunterricht in der pluralistischen Schule